Über Judith von Hiller

Silberschwingen tragen uns

möwengleich, im Schwebeflug.

 

Schwebeflug – in der Luft stehen – die Zeit anhalten zwischen Wachen und Träumen, für einen Moment den Sinn der Lebensreise verstehen.

Diese Reise beginnt für Judith von Hiller im künstlerischen Leipzig Mitte der 70er Jahre – lange vor der Wendezeit. Hier wird sie im Sommer 1976 geboren. Sie wächst auf, begleitet vom Glanz und Geruch der Farben in der Druckgrafikwerkstatt ihrer Eltern, und dem Geräusch einer fieberhaft auslösenden Kamera im Atelier ihres Großvaters, einem Akt- und Modefotografen. Sie tanzt auf den Partys ihres Schlagzeug spielenden Vaters und seinen jazzvernarrten Freunden zu Swing und Soul, eine kleine Revolution in der damaligen DDR, und beginnt mit 8 Jahren, Gitarre zu spielen. Mit 12 schreibt sie ihren ersten Song für eine Freundin und sammelt erste Konzerterfahrungen mit einem Gitarrenduo auf den kleineren Bühnen des Landes.

 

Die ganze Welt in mir

 

Mit den Ereignissen vom Herbst 1989 entsteht ein völlig neues Lebensgefühl. Mutige Menschen strömen auf die Straßen, haken sich unter, zünden Kerzen an, sprengen die Grenzen des kleinen Landes ohne Sprengsätze. Alles wird anders. Plötzlich heißt Staatsbürgerkunde Gemeinschaftskunde, es wird nicht mehr geflüstert, sondern laut gesagt, was man denkt. Nun duften die Urlaubsziele nach Olivenöl und Lavendel. Die Freude über die neu gewonnene Freiheit ist auch bei Judith von Hiller groß, sie wagt sich weit über die ehemaligen Grenzen hinaus – mit 17 Jahren reist sie zum ersten Mal nach Brasilien, um dort mit Straßenkindern zu arbeiten – fast eine halbe Erdumrundung. Zurück in Deutschland, als es in Strömen regnet, erinnert sie sich an die Kinder, die im dichten und warmen Sommerregen lachen und tanzen. Sie schreibt den Song Rain, ein Bild für die Lebensfreude und den Mut, sich hinaus zu wagen, auch wenn man durchnässt wird, denn die Sonne trocknet einen ja wieder.

 

Das Land hat ihr Herz erobert. Nach dem Abitur fliegt sie ein weiteres Mal nach Brasilien und findet hier zu ihrem Beruf als Musikerin. Die Fröhlichkeit und die Musikalität der Brasilianer, ihre melodische Sprache, ihr allgegenwärtiges Singen und Tanzen, gehen ihr tief unter die Haut. Sie beschließt, die Gitarre nie mehr aus der Hand zu legen. Noch am Flughafen ruft sie ihre Eltern in Leipzig an und offenbart ihren Traum vom Musikstudium.

 

Was wir wollen

 

Es folgt der geographische Quantensprung zurück nach Deutschland und nach Weimar: Im Oktober 1996 beginnt sie, dort Klassische Gitarre zu studieren. Weimar - so riecht der Herbst, findet Judith von Hiller noch heute. Neben den klassischen Übungen, die sie Tag für Tag absolviert, entsteht mit der Zeit ein musikalisches Tagebuch, ein Wegbegleiter, wenn sie abends durch die Gassen läuft, in die beleuchteten Fenster der Schillerstraße schaut, oder im Goethepark die Baumkronen den Augen ein prächtiges Farbenspiel bieten: Songs strömen aus ihr heraus, aus spontaner Lust geboren oder als das Ergebnis nachdenklicher Tage. Songs, die ihr schließlich sagen, dass ein klassisches Studium allein nicht mehr befriedigt. Sie spielt 2001 ihr Diplomkonzert und beginnt noch in der Prüfungszeit mit dem Aufbaustudium Gitarre Weltmusik in Dresden. Die Klassik wird zu Popularmusik. In Dresden empfängt sie ein anderer Herbst, stürmischer als der in Weimar. Durch die breiten und oft leer wirkenden Straßen fegt der Wind wildromantisch – und Judith von Hiller beginnt, in ihrer Musik die Stile durcheinander zu wirbeln. Auskomponierte, fremde Musik wird zu improvisierter eigener Musik.

 

Judith von Hiller lernt hier Musiker kennen, die ihre Songs mögen, gewinnt erste Preise und macht schließlich 2005 mit einer kleinen Band Examen.

 

2007 wird ihre Tochter geboren und bringt ihrer Musik eine weitere Dimension an Erfahrung, die schließlich auch in die Sinnsuche, von der sie auf ihrer 2009 veröffentlichten Debut-CD "Schwebeflug" erzählt, das Gefühl des Angekommen-Seins trägt.

 

2015 wird ihr Sohn geboren, und auch diesmal wandeln sich Glück, Freude, Nachdenklichkeit, reifer gewordene Träume und Weltbetrachtungen in zahlreiche neue Songs, die sie nach ihrer Konzertpause wieder auf die Bühne bringen wird.

 

Judith von Hillers Lieder sprechen von persönlichen Beziehungen, vor allem aber erzählen sie von der Erde als einem fliegenden Teppich, und sie laden ein, die Wunder unseres lebendigen Himmelskörpers als Kunstwerk zu begreifen. So ist Judith von Hiller dann auch eine Urenkelin jener romantischen Künstler, die wie Novalis den Traum von einer Universalpoesie träumten.

 

Try to hear the Earth

heartbeat like a mother

take my hands as hers

she`s our flying carpet.

 

Und manchmal fühlt sie es ganz so, wie Christian Morgenstern das Dasein des Musikers beschreibt:

 

Die Sterne lauter ganze Noten,

Der Himmel die Partitur,

Der Mensch das Instrument.

 

 

Gesche Blume